Mithilfe von Vorgaben kannst du dem Spieler deiner Mannschaft Ordnung & Struktur verleihen. Dafür schränkst du den Handlungsspielraum deiner Spieler zielgerichtet ein. Mehr Freiheit bekommen deine Spieler, wenn du einen großen Handlungsrahmen anbietest und die Anzahl deiner Vorgaben gering hältst. Systematik und Freiheit stehen im Konflikt zueinander.
Aus diesem Grund stellt sich folgende Frage:
“Was ist die ideale Balance zwischen Freiraum & Systematik?“
Bevor wir zur Antwort kommen, stellen wir uns erstmal eine andere Frage. Dabei setzen wir uns mit dem Rekordsieger des wichtigsten Wettbewerbs im Vereinsfußball auseinander.
Warum gewinnt schon wieder Real Madrid die Champions League?
Ein wesentlicher Grund ist die hohe Qualität der Einzelspieler im Team. Real Madrid hat auf fast allen Positionen Weltklasse-Spieler. Jedoch verfügen auch Teams wie Manchester City über Kader mit einem vergleichbaren Niveau. Trotzdem heißt der Sieger mal wieder Real Madrid.
Auf dem Weg zu den Titelgewinnen gibt es immer wieder Last-Minute-Siege. Dieses Phänomen kann kein Glück oder Zufall sein – dafür kommt es zu oft vor, dass Real Madrid in der Schlussphase Spiele dreht. Die Last-Minute-Siege werden mit der „Abgezocktheit" des Teams in Verbindung gebracht. Sie lassen sich durch Rückstände und ungünstigere Spieldynamiken nicht aus dem Spiel bringen. Doch woher kommt diese „Abgezocktheit"?
Eine etwas andere Spielidee
Um die „Abgezocktheit" von Real Madrid zu erklären, lohnt sich ein Blick auf deren Spielidee.
Die Spielidee der Madrilenen zeigt einen wesentlichen Unterschied zu den Ideen der europäischen Konkurrenz auf – dieser Unterschied bezieht sich auf das Entscheidungsverhalten. Das wirkt bei den Spielern von Real Madrid individueller und intuitiver. Bei der Konkurrenz zeigen sich mehr Muster bei den Entscheidungen – Handlungen wiederholen sich regelmäßiger. Handlungen werden häufiger auf eine bestimmte Art und Weiße umgesetzt.
Daraus lässt sich folgendes schlussfolgern:
- Die Spieler der europäischen Konkurrenz orientieren sich stärker an einer „von-außen-vorgegebenen“ Idee.
- Die Konkurrenz nutzt eine „systematische“ Spielidee.
- Die Spieler von Real Madrid richten sich in einem geringeren Maß an eine „von-außen-vorgegebenen“ Idee.
- Die Spielweise von Real Madrid wird stärker durch das individuelle Entscheidungsverhalten der Spieler geprägt.
- Real Madrid zeigt eine „spielerzentrierte“ Spielidee.
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Welche Spielidee ist besser?
Es wäre vermessen, eine Idee als besser zu bezeichnen. Jedoch zeigen sich zwei entscheidende Unterschiede hinsichtlich der Vorhersehbarkeit und der Anpassungsfähigkeit. Das führt - zumindest unter bestimmten Bedingungen - zu Vorteilen für die spielerzentrierte Idee.
Vorhersehbarkeit
Vorhersehbarkeit ist per se nichts Schlechtes. Es ist sogar ein wesentliches Element für die Umsetzung von Spielideen mit einer stärkeren Systematik. Dabei orientieren sich die Entscheidungen offensichtlicher an einer „vordefinierten“ Idee.
- Entscheidungen der Mitspieler lassen sich damit im Vorfeld erahnen
- Entscheidungen können leichter aufeinander abgestimmt werden
- Automatismen & Muster entstehen
Das hat aber auch eine Kehrseite – umso mehr Muster das eigene Spiel aufzeigt, umso leichter kann sich der Gegner darauf einstellen.
Bei der spielerzentrierten Spielidee lebt die Vorhersehbarkeit von Handlungen des Mitspielers stärker vom „Kennen des Mitspielers“. Es ist also ein Vorteil, wenn Spieler schon länger im selben Team spielen. Nach einiger Zeit des Zusammenspiel werden ebenfalls wiederkehrende Handlungsmuster zu sehen sein. Trotzdem wird die Lösungsfindung bei der spielerzentrierten Idee vielseitiger und flexibler bleiben – der Gegner kann sich schlechter auf das Spiel einstellen.
Anpassungsfähigkeit
Greift die eigene Spielidee unter den gegebenen Spielbedingungen, muss nichts verändert werden. Erfordert die Spieldynamik Abänderungen im Entscheidungsverhalten, ist die spielerzentrierte Spielidee im Vorteil gegenüber dem systematischen Ansatz
Warum ist das so?
#1
Bei einer systematischen Idee sind die „Informationswege“ weiter: Wenn der Hauptbezugspunkt für das Handeln „von außen“ kommt, müssen Informationen erst an Spieler weitergeleitet werden. Die müssen dann ihr Handeln anpassen.
Bei einem spielzentrierteren Ansatz sind die Spieler selbst ein wesentlicher Gestalter der Idee – somit erfolgt die Anpassung des Entscheidungsverhaltens viel unmittelbarer. Die Abänderungen können dabei sowohl bewusst als auch intuitiv erfolgen.
- Egal ob bewusst oder intuitiv - die Qualität der Abänderungen im Entscheidungsverhalten nimmt mit der Spielerfahrung zu
#2
Die Gestaltung der systematischen Spielidee erfolgt im stärkeren Maße im Vorfeld auf dem Papier. Beim spielerzentrierten Ansatz wird die Idee dagegen auf dem Spielfeld und deutlicher im „hier und jetzt“ gestaltet.
- Der theoretischer Ansatz ist somit statischer & träger
- Die spielerzentrierte Idee ist flexibler und damit auch anpassungsfähiger
Eine Frage des Wettbewerbs
Kommen wir wieder zurück zu Real Madrid und der europäischen Konkurrenz.
Es scheint so, dass sich die systematischeren Ansätze für Teams wie Manchester City in einem Ligabetrieb bewähren – die Spielbedingungen sind aufgrund der oftmals klaren Rollenverteilung (Favorit und Außenseiter) vorhersehbarer. Es werden seltener Anpassungen benötigt.
In der Champions League ist der Wettbewerb ab einem bestimmten Zeitpunkt schwerer auszurechnen - das hängt mit den K.-o.-Spielen und dem homogeneren Teilnehmerfeld zusammen. Somit entstehen viel unvorhersehbarere Spieldynamiken.
Real Madrid konnte sich aufgrund der spielerzentrierten Spielidee besser an diese unberechenbaren Bedingungen des Wettbewerbs anpassen.
Zusätzlich wird diese Anpassungsfähigkeit durch den teilweise sehr erfahrenen Kader begünstigt. Das Team kann auch bei „chaotischen“ & ungünstigen Spieldynamiken die Ruhe behalten. Die Spielerfahrung verbessert die Intuition & das Spielverständnis und somit das Entscheidungsverhalten.
- Die „Abgezocktheit" führt dazu, dass auch unter unvorhersehbaren Bedingungen günstige Entscheidungen getroffen werden
- Die „Abgezocktheit“ lebt von der spielerzentrierten Idee in Kombination mit der Spielerfahrung des Kaders
Fassen wir einmal zusammen
Die Spieler von Real Madrid erhalten von ihrem Trainer Ancelotti relativ viel Freiheit im Entscheidungsverhalten. Das führt dazu, dass das Agieren von Real Madrid schwerer auszurechnen ist. Die Spielererfahrung sorgt dafür, dass die Spieler günstige Optionen innerhalb des Handlungsrahmens finden.
Die Spieler der europäischen Konkurrenz haben einen kleineren Entscheidungsrahmen zur Verfügung. Dadurch entstehen deutliche Muster sowie Automatismen im Spiel - Handlungen werden sowohl für den Gegner als auch die Mitspieler vorhersehbarer.
Was können wir daraus ableiten?
- Bietest du deinen Spieler einen großen Handlungsrahmen, ist dein Spiel unvorhersehbarer & flexibler
- Ein engerer Handlungsrahmen führt zu einer guten Abstimmung im Entscheidungsverhalten. Das Entstehen von Automatismen wird begünstigt.
- Ein zu großer Handlungsrahmen führt dazu, dass euer Spiel zu wenig Ordnung und Struktur hat. Handlungen harmonieren nicht mehr miteinander. Das eigene Spiel wird chaotisch.
- Ein zu enger Handlungsrahmen macht das eigene Spiel vorhersehbar. Den Spielern wird ihre Kreativität genommen und dein Team ist berechenbar.
- Die Entscheidungsqualität von Spielern nimmt mit der Spielerfahrung zu.
Anmerkung:
Aus dem letzten Punkt sollte nicht geschlussfolgert werden, dass Jugendspieler einen engen Handlungsrahmen benötigen – das Gegenteil ist der Fall. Das Treffen von vielfältigen und auch „falschen“ Entscheidungen ist ein notwendiger Prozess, um die Entscheidungsqualität langfristig zu steigern.
Was ist die ideale Balance zwischen Freiraum und Struktur?
Kommen wir zurück zu unserer Ausgangsfrage.
Eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Jedoch verstehen wir jetzt, wie sich eine Zu- und Abnahme von Freiraum und Struktur auf das eigene Spiel auswirkt. Somit kannst du die Frage für dein Team beantworten.
Dafür betrachten wir die folgenden Skalen. An einem Ende der Skala befindet sich die „maximale Freiheit“ und am anderen Ende die „maximale Systematik“. Nun versuchst du euer Spiel auf den einzelnen Skalen zu verorten. Dabei ist es hilfreich, das eigene Team in Relation zur Ligakonkurrenz zu betrachten. Jetzt kennst du den IST-Zustand deines Teams.
Maximaler Freiraum
Maximale Systematik
Spielaufbau
Herausspielen von Torchancen
Pressing
Umschaltspiel
Standards
Im nächsten Schritt kannst du überlegen, ob Veränderungen auf den Skalen euer Spiel verbessern würde.
- Wirkt das Agieren in einer Phase zu „chaotisch“, hilft mehr Struktur. Du schränkst den Handlungsrahmen deiner Spieler zielgerichtet ein, um mehr Ordnung und Struktur herzustellen. Du bewegst dich auf der Skala nach rechts.
- Fehlt es in einer Phase dagegen an Unberechenbarkeit und Kreativität, solltest du deinen Spielern mehr Freiraum geben. Du bewegst dich auf der Skala in die linke Richtung.
Jetzt hast du für jede Spielphase eure ideale Balance zwischen Freiraum und Struktur festgelegt.
Praxistipp:
Spielprinzipien führen zu einem stimmigen Verhältnis zwischen Freiraum und Systematik. Die Prinzipien sorgen für einen Handlungsrahmen – die Entscheidungsoptionen werden nur eingegrenzt. Damit bekommt ein Team ein ausreichendes Maß Struktur und Ordnung, ohne den Spielern ihre Kreativität zu „rauben“.
23 Spielprinzipien
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Autor: Luis Österlein